… es gibt viele Formen des ausgeliefert seins. Ich möchte hier nicht die Zustände von gewaltsamen oder unterdrückenden Missverhältnissen in den Fokus rücken, sondern jene überwältigenden Momente, die auf der Reinheit von zutiefst ehrlich und offen geäußerten Bedürfnissen fußen und die uns durch ihren Seltenheitswert, aber auch durch ihre nahezu kindliche Natürlichkeit aus den gängigen Kommunikationsmustern hauen.

Vor sehr vielen Jahren (als es noch keine offizielle Flugscham gab) saß ich in San Francisco an einem Abend in einem asiatischen Selbstbedienungsrestaurant. Ich war ein paar Abende zuvor bereits dort gewesen. Es war relativ günstig, völlig ausreichend vom Angebot und ich hatte dort das Gefühl angemessen allein sein zu können. An den meisten Tischen saßen die Gäste zu zweit oder in Gruppen. Ein relativ junger Mann trat ein, quadratisch, etwas grob in seiner Statur, aber weich in den Zügen. Eine dick umrandete Brille füllte ein rundes Gesicht mit einem glänzend aufgeworfenen Mund. Er sah sich leicht hektisch in dem ungemütlich ausgeleuchteten Raum um, fixierte dann mich und den leeren Stuhl mir gegenüber.

Mein Blick ging zur Seite, leise aufstöhnend – bitte nicht. Doch irgendwas schien er an mir erkannt zu haben. Schnurstracks steuerte er auf den freien Platz zu und mit einer leicht aufgekratzt wirkenden Stimme, die dennoch behäbig war, fragte er, ob er sich zu mir setzen dürfe. Gefühlt alle Gäste des Lokals drehten sich zu mir um und warteten auf meine Reaktion.

„Sure…“ hauchte ich in den Abstand zwischen zerkratzter Tischplatte und meinem Brustkorb. Von der Energie her war es jedoch eher ein: „Please don’t …“

Er war ja nicht unsympathisch. Aber ich wollte einfach keine derartig auffallende Gesellschaft. Doch wie sagt man das auf einer unfreiwillig gelandeten Bühne, in der diese US-gesellschaftlich aufrecht gehaltene Illusion „Wir befinden uns alle in einem überdimensionalen Wohnzimmer und ich setze mich zu Dir auf’s Sofa, denn wir sind jetzt für diesen Moment schon immer beste Freunde gewesen“ gespielt wird? Richtig – man lächelt, nickt und dann dreht man sich wieder um und geht seiner Wege. Ist nur schwierig, wenn man gerade einen vollen Teller vor sich hat und ein ziemlich interessiertes Publikum um sich herum.

Es waren diese gängigen Fragen, mit denen er mich zu bombardieren begann. Wo ich herkam, was ich in SF so machte, was ich da gerade aß, was ich ihm empfehlen könnte, Blabla. Das Schlimme daran: er redete in einer Lautstärke, die meine Reaktionen, vielmehr mein völlig überfordertes, schamhaftes und auswegloses weg-Ducken in gleißendes Scheinwerferlicht stellten. Jedes Mal, wenn er mit von Hühnchenfett triefenden Lippen eine weitere Information von mir wollte, drehten sich Köpfe zu unserem Tisch und warteten auf Rede und Antwort. So wusste schließlich der gesamte Raum, dass ich eine Touristin aus Deutschland war, meine Mutter Koreanerin ist, ich kein Fleisch esse und an dem Tag das Museum for Contemporary Art besucht hatte. Alles völlig banal, doch hier bekam das Gesagte eine gequälte Note, denn ich fühlte mich seiner offensiv einnehmenden und entwaffnend unschuldigen Art völlig ausgeliefert. Und das sah mir mein voyeuristisches Publikum deutlich an. Ob sie Mitleid mit mir hatten? Ich glaube nicht, es war alles so typisch US-amerikanisch um mich herum – will sagen, ich war in jenem begrenzten Zeitfenster das willkommene, jedoch völlig zufällige Objekt allgemeiner Unterhaltung.

Den finalen Höhepunkt bildete seine durch den Raum schallende Frage, ob ich verheiratet sei und ob wir uns am nächsten Tag wiedersehen könnten. Noch ein Mal drehte sich mein gnadenloses Publikum zu mir um, meine gestammelte Abwehr, diese Gefühle von Peinlichkeit beschauend. Ich windete mich heraus, indem ich behauptete am nächsten Tag die Stadt zu verlassen. Was halbwegs stimmte, aber nicht genau auf das Datum zutraf. Sein erschütternd offen vorgetragenes Bedauern im Raum und ein kaum merklich nickendes Publikum – sie hatten es erwartet. Ich machte die restlichen Tage meines Aufenthaltes einen großen Bogen um das Lokal.

Heute würde ich an dem Tisch sitzen, den Kopf in die Hand stützen und diesem wunderbar unverstellten Menschen für seine Gesellschaft an jenem Abend danken – ganz laut, also so richtig laut, so dass es alle in jenem lieblosen Schnellrestaurant hören. Dafür, dass er uns alle dort mit jeder Faser seines Seins daran erinnert hat, wie genuin natürlich Bedürfnisse nach Kontakt sein können.