Gestern musste ich zum Tierarzt. Zu dem meiner Schwester in Neukölln. Der Meine in Kreuzberg scheint ein Alkoholproblem* zu haben – sagt auch meine Nachbarin, die da ebenfalls seit Jahren mit ihrer Katze hingeht. Nun erkennt er uns trotz jahrelang regelmäßig durchgeführter Impfungen und sonstiger Handlungen an dem gehätschelten Tierchen nicht mehr und hat mir eine komplizierte Zahn-OP am Tier angekündigt, bei der ich mir 1. nicht sicher bin, ob er diese in seinem nicht ganz einschätzbaren Zustand durchführen sollte und 2. nicht weiß, ob diese überhaupt nötig ist.

Daher mein Gang über die Grenze in das schmuddelige Neukölln, in der Hoffnung, dass der Tierarzt dort mein Vertrauen in tierärztlichen Rat wieder stärkt.
Die sogenannte Praxis ist ein kahler Raum mit vier Beleuchtungsplatten an der Decke, die der Vorbesitzer (vermutlich eine Werkstatt mit Verkaufstresen) dran gelassen hat.
Vier Plastikstühle stehen an der anderen Seite, auf denen ein tätowiertes Mädchen in schwarzen Nylonstrümpfen mit Riesen-Dogge und eine ältere Dame mit Merkel-Mundwinkeln und Plastikkorb auf dem Schoß sitzen.
Ein regelmäßiges Maunzen verrät die über alles stehende Frage im Raum: Bist Du der Hunde- oder Katzentyp?

Die Katze habe eine Magenverstimmung, sagt ihre Besitzerin. Sie hat sich seit gestern mehrmals schaumig und blutig übergeben, was sie nun doch lieber mal abgeklärt haben möchte. Sie lächelt und da wirkt Neukölln plötzlich so viel ehrlicher als Kreuzberg, so pur und rein zwischen hängenden Falten in verbrauchten Gesichtszügen. Ein Strahlen aus müden Augen ist zu sehen und so etwas wie Wahrhaftigkeit in der Sorge um ein kotzendes Haustier.
Das hält sie allerdings nicht davon ab, sich vor meinen kreuzbergerisch telefonisch vorher ausgemachten Termin zu drängeln und fix zu der sich verheißungsvoll öffnenden Tür des Doktors zu wieseln. Beflissen. Fast seelig.

Die klapprige Tür zur Straße geht auf und auf die Bühne tritt ein weiterer Katzentyp mit einem Plastikkorb, in dem es heftige Bewegungen von großen Massen an orangenem Fell gibt (ich weiß, man sagt rot dazu – warum eigentlich? Es ist orange!).
„Hör jetzt damit auf!“ Herrscht der Mann den ruckenden Korb an. Der Korb gibt Ruhe.
„Der Kater hat wat an der Pfote. Ick hab‘ aber nur 30 Euro dabei. Das kann ick einzahlen. Wenn es mehr kostet, muss ick das dann abstottern.“ Blafft er die Tierarztgehilfin hinter ihrem abgewetzten Tresentisch an. Diese nickt freundlich. „Ist in Ordnung.“ Sagt sie zu meinem weiteren Erstaunen.

Er setzt sich seufzend auf einen dieser dunkelblauen Plastikstühle, den wackelnden Korb auf seinem Schoß. Er holt aus seiner Gürteltasche das Handy heraus und fängt an zu tippen. Dann schlägt er erneut gegen den Korb: „Gib Ruhe jetzt, verdammt noch mal!“
Irgendwie erschüttert und in Sorge, dass er noch doller auf den Korb hauen könnte, frage ich schnell von der Seite: „Wow, der ist groß! Ist das ein Kater?“
Etwas misstrauisch blickt er mich an, dann ein kurzes Aufflackern von Schüchternheit, was jedoch fließend überschwappt in eine leise Angriffslustigkeit und moderate Aufschneiderei – und sagt stolz: „Ja.“
Er wippt dabei leicht mit dem runden Kopf, nickend und dann fügt er hinzu: „Der Clown hier kostet mich noch den letzten Nerv.“
Er umarmt den Korb mit seinen kurzen Armen und wiegt ihn hin und her.
„Was ist passiert?“ Frage ich vorsichtig.
„Ach, Scheiße hatta ma‘ wieda jemacht.“ Ruft er aufgebracht.
„Mal wieda über Tische und Schränke jedonnert und dabei sich die Pfote angehauen. Heute Morjen habe ich ihn gefunden, im Waschbecken und gejault hatta. Wie blöde. Naja, deswejen sitz ick jetzt hier.“
„Im Waschbecken?“
„Ja.“ Er nickt hochzufrieden. „Da schläft er jerne.“
Er schaut auf das herausquellende Fell in dem Korb. „Dit ist mein Junge. Als ich ihn ganz neu hatte, komm ick morjens ins Bad und da liegt er im Waschbecken. Dat is ne Marke.“ Er lächelt kurz. „Den hier habe ich jerettet.“
Er sieht mich wieder nickend an. „War eingesperrt. Aber ick hab‘ ihn da rausjeholt. So was macht man nicht mit Tieren. Ick weeß das, bin ja aufjewachsen mit Tieren. Wer so was mit Tieren macht, hat se nicht mehr alle. Menschen jibt es, dat is nich mehr feierlich. Die jehören ins Jefängnis.“
„Ah,“ sage ich. Und verstehe gar nichts. „Und Du hast ihn dann aus einer Wohnung befreit?“
„Ja.“ Antwortet er fest. „Der Ex meiner Ex ist in den Knast und dann hab‘ ick ihn jehört, der hat dat Tier einfach in der Wohnung jelassen. Und dann hab ick den rausjeholt. Zu mir. Der ist mir total dankbar. Wir sind janz dicke.“ Er tätschelt den Korb. „Ne, Dicka? Der kuschelt auch ganz viel, schläft auf meinem Kopfkissen so über meinem Kopf. Dit is ein janz Lieba.“

Faszinierend. In Kreuzberger Tierarztpraxen höre ich Stories, wie die geliebten Viecher von der Straße im letzten Urlaubsland oder aus dem Tierheim gerettet werden – hier aus verlassenen Wohnungen, deren Türen eingetreten werden, weil der vorherige Besitzer im Knast sitzt.

Die Eingangstür klappert wieder auf. Herein kommen zwei junge Mädchen und setzen sich munter quatschend auf die blaue Plastikbank links neben mich. Sie schauen sich kurz um, die Riesen-Dogge ist bereits abgegangen.
„Nur Katzen hier.“ Sagt die Kleinere von beiden. Die Größere öffnet vorsichtig den mitgebrachten Tragekorb und zwei Katzenbabies strecken ihre neugierigen Köpfchen heraus.

„Boah, ist der groß!“ entfährt es der Kleineren und zeigt auf den Korb meines Nachbarn zur Rechten. „Schaut mal,“ sagt sie und streichelt dabei versunken das eine Katzenbaby. „So groß werdet Ihr auch mal.“

Der Katzenretter zu meiner Rechten und ich lächeln die beiden Katzenbabies in ihren noch so herrlich unbeholfenen Bewegungen an.

Das eine Mädchen wispert der anderen etwas zu. Die verdreht die Augen, kramt ein Handy aus der Tasche und hält es ihr hin.
„Deine Katzenliebe geht auch nur so weit, bis Du ein Handy in den Händen hast.“ Die andere nickt ergeben und lächelt zufrieden auf das Display.

Endlich darf ich zum Doctore hinein. Ein noch kahlerer Behandlungsraum eröffnet seine Funktionalität vor mir. Mein Katerchen muss nicht mal aus seiner Tasche steigen, der auf seine Aufgabe reduzierte Arzt untersucht das Tier angenehm aufmerksam und vorsichtig.

Der Zahn muss raus. Mein Tierarzt aus Kreuzberg ist rehabilitiert.
„Wie regelt das denn die Natur?“ Frage ich den sorgsamen Mann.
Er stützt sich hinter sich mit beiden Händen auf einem Tisch ab und sieht mich seufzend über die randlosen Gläser seiner Arztbrille an: „Die Natur ist grausam.“

Ich lache laut. Es ist ein erstauntes, aber auch erleichtertes Lachen ob all jener Momente um mich herum, die sich klar auf das Wesentliche konzentrieren. Ohne Getöse. Ganz einfach auf das Herz.​

* Ich behalte mir als Autorin vor, alles Gesehene und Gehörte maßlos zu übertreiben. Ähnlichkeiten im Text zu realen Personen sind rein zufällig.