Es gibt Menschen, vor denen möchte man sich verneigen und auf den Boden werfen. Und sehr wahrscheinlich sind es um einen herum sehr viel mehr, als einem lieb sein kann.

Letzten Samstag traf ich Helga. Ich saß mit meinem Nachbarn auf einem kleinem Platz, wo an ein paar wenigen Marktständen Obst, Gemüse und herrlich fettige Samosas angeboten werden.

Sie kurvte in ihrem elektrischen Rollstuhl zwischen den Ständen hin und her, grüßte alle Anwesenden freundlich, quatschte hier und da. Sie fiel mir auf, weil sie bei guten 30° komplett vermummt war: ein lilafarbenes dickes Halstuch verdeckte Mund und Nase, eine grellgrüne Sonnenbrille die Augen und ihre Hände steckten in Einmalhandschuhen – die sich wellten, als würden in ihnen das Kondenswasser nur so schwappen. Dazu trug sie noch einen dicken Jogginganzug, der kaum Luft durchlassen konnte.

Als sie wieder ein Mal winkend an uns vorbei flitzte, fragte ich sie, wie sie es bei der Hitze in ihrem Outfit aushalten würde.

„Du, ich gebe Dir mal einen Tipp – “ und hob den Zeigefinger, wie sie ist noch oft im Laufe unseres Gespräches tun würde. „Im Sommer immer warm trinken und im Winter nur kalte Cola. Dann kommste durch alles durch.“ Sie lachte ein freches Lachen. Ich verstummte konsterniert, sie schien es wirklich ernst zu meinen.

„Und dann bin ich halt mit meiner Lungen- und Herzerkrankung Hochrisikopatientin, weißte. Ich kann echt sterben, wenn ich was krieg‘. Selbst hier draußen, daher auch die Sonnenbrille wegen der Augenschleimhäute. Und schau mal, ich kann auch noch die Kapuze überziehen.“ Sprach und tat es. Sie verschränkte die Arme aufsässig vor der Brust und sah tatsächlich aus wie so ein grauer HipHop-Wichtel.

Während sie uns all die Menschen hinter ihren Ständen vorstellte und uns ihr halbes Leben im Kiez erzählte, lief hinter uns eine jener Gestalten vorbei, die einem gar nicht mehr in ihrer Auffälligkeit ins Auge springen. Tatsächlich war er ganz besonders heraus geputzt. Er trug viel silbernen Schmuck, Leder und einen langen Fuchsschwanz hinten am Hosenbund, der bis auf Höhe seiner Kniekehlen baumelte. Sie hielt in dem unseren Gespräch inne und schrie ihm hinterher: „Oh Mann, siehst Du toll aus! Darf ich Deinen Schwanz mal streicheln?“

Ich erstarrte und nach einer Schocksekunde hatte ich Sorge vor Lachen vom Stuhl zu fallen. Auch der so angequatschte Minotaurus lachte herzlich, winkte und stolzierte weiter.

Wir verglichen wer von uns am längsten im Kiez wohnen würde. „Aber eigentlich komme ich aus Frankfurt in Hessen. Da bin ich geboren, aber da war ich nur ein halbes Jahr. Meine Eltern konnten mich nicht gebrauchen und haben mich dann weg gegeben.“ Sie macht eine wegwerfende Bewegung mit den faltig behandschuhten Händen. „Ich war schon überall in Westdeutschland – von ganz oben im Norden bis runter in den Süden.“

„Wie ging denn das? Seid Ihr so oft umgezogen?“
„Nee, ich bin alle Kinderheime durch. Ich war ein krankes Kind, das war allen zu anstrengend. Nach einem halben Jahr hat man mich dann meistens versetzt. War nicht schön, aber so war das halt damals so. Das hat man so mit Kindern wie mir gemacht. Hab‘ im Nachhinein aber auch Entschädigungszahlungen wegen Kindesmisshandlung bekommen.“ Sie zuckt mit den Schultern. Sie wirkt kein bisschen vorwurfsvoll oder nachtragend.

Ein Gruppe von drei jungen Männern mit langen dunklen Haaren geht an uns vorbei. Helga bekommt große Augen: „Oh, seht Ihr schön aus! Flirtet Ihr ein bisschen mit mir?“ Höflich (und durchaus ein bisschen verstört) lächelnd gehen diese weiter.

„Ich war ja mal ganz doll verliebt. Da war ich 17. Der war auch aus’m Heim. Der war ein Guter. Hat mich nicht benutzt. Und den habe ich dann gefragt, ob er mich heiratet. Und da hat er ganz ehrlich gesagt: ‚Helga, du weißt doch, ich werde immer wieder im Knast landen. Das will ich Dir nicht antun.‘ Ich sach‘ Euch, so einen findet man nicht wieder.“ Sie nickt ein bisschen heftiger.

„Was ist aus ihm geworden?“ Frage ich.
„Ich weiß es nicht.“ Antwortet sie nachdenklich. „Nicht mal, ob er noch lebt. Kann man jemanden finden, wenn er im Gefängnis sein sollte?“
„Das weiß ich leider nicht, so eine Anfrage habe ich auf Google noch nie gestellt. Wir könnten es probieren.“

Sie winkt ab. „Tja, war alles nicht so leicht in meinem Leben. Aber insgesamt kann ich nur sagen, es ist doch alles immer gut gegangen. Habe immer wieder Glück gehabt.“ Sie lacht hell auf.

„So, ich muss gleich heim, meine Tabletten pünktlich um 15h einnehmen. Was macht Ihr beiden Hübschen heute noch so?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich wollte gerne irgendwo noch ein bisschen Zeitung lesen gehen. Ich weiß nur gerade nicht, wo…“

Sie zückt ihr kleines Handy und tippt eine Nummer ein. „Hey,“ sagt sie zu einer Stimme an ihrem Ohr. „Habt Ihr Zeitungen da? Okay, ich schicke Dir gleich mal zwei Freunde von mir vorbei. Die wollen nen anständigen Kaffee und was zu lesen. Bis bald, meine Liebe!“

Sie erklärt uns ausführlich den Weg zu jenem Café (es ist die Straße runter), in dem eine Freundin von ihr arbeitet, wünscht uns einen schönen Nachmittag und zischt in ihrem Rollstuhl davon.