„Ich glaube, ich verliere meinen Geist.“ Sagt mein halb-dementer Nachbar.
„Ach ja? Woran merkst Du das?“ Mir ist das ja schon öfter aufgefallen, aber diese (Selbst-) Erkenntnis ist neu.
„Ich war immer stolz auf meine Gedächtnis. Ich dachte, ich kann mir alles merken. Dem ist anscheinend nicht mehr so.“ Er zuckt mit den Schultern. Er hat tatsächlich ein großes Wissen, geschichtliche Daten und Zusammenhänge kann er ohne Mühe zitieren.
„Was wäre denn noch wichtig für Dich zu wissen?“ Frage ich.
„Wichtig… was ist noch wichtig… also, ich weiß wann ich geboren wurde, wie meine Eltern und Brüder heißen und in welchem Ort ich groß geworden bin…“ Er zählt die schon sehr oft rezitierten Daten, Namen und Orte auf und wer wie wann und wo aus seiner Familie was alles gesagt, getan und erlebt hat. Das scheint ja noch alles bestens zu funktionieren.

„Du, anderes Thema -“ unterbreche ich seine Aufzählungen. „Ich wollte eigentlich mit Dir heute raus gehen, so wie letzte Woche zum Kanal und in das nette Lokal auf dem Wasser. Aber das Wetter spielt heute nicht mit. Vielleicht klappt es nächste Woche.“
„Das macht ja nichts, ich war gestern da.“
„Wie?“ Ich stutze. „Du warst draußen? Mit wem denn?“
Ich bin mehr als überrascht. Ihn nach unten zu begleiten, den Rollstuhl runter und wieder hoch zu schleppen, ihn wieder nach oben begleiten, das zieht sich. Wer hat das für ihn organisiert?
„Weiß ich nicht.“
„Häh? Du warst gestern unten am Kanal und in dem Café, da wo wir letzte Woche zusammen waren?“
„Ja, genau.“ Er nickt.
„Aber es muss Dich doch jemand begleitet haben…“
„Ja, da war ja auch jemand.“
„Wer denn?“
„Weiß ich nicht.“
„Du weißt nicht, mit wem Du gestern draußen warst?“ Ich bin ein bisschen fassungslos.
„Nö. Ist das wichtig?“ Er sieht mich schief von der Seite an.
Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Mir ist es gerade wichtig.
„Ich verstehe das nicht… war es jemand vom Pflegedienst?“ Frage ich.
„Nee, es war irgendein Mädchen hier aus dem Kiez.“ Sagt er langsam.
„Irgendein Mädchen hier aus dem Kiez kommt zu Dir und nimmt Dich mit zum Kanal?“
„Ja, so war es.“
„Und Ihr habt genau die gleiche Tour gemacht, wie wir vergangene Woche?“
„Ja. Ist doch schön dort.“
„Ja, natürlich. Ich bin nur überrascht, dass ein Dir unbekanntes Mädchen aus dem Kiez Dich auf haargenau die gleiche Tour mitnimmt, die wir beide zusammen gemacht haben… “ Sage ich ungläubig. „Wie hieß die denn?“
„Weiß ich nicht. Habe ich mir nicht gemerkt.“
„Du gehst mit irgendeinem Mädchen, dessen Namen Du nicht weißt, raus ins Café?“
„Ja, ist das ein Problem?“ Fragt er zurück.
„Es ist kein Problem, es ist einfach nur… Ich bin verwirrt.“
„Wie ist die denn hier rein gekommen?“ Frage ich weiter.
„Weiß ich nicht.“
Ich überlege, ob es so eine Einheit sozialer Betreuung von seinem Pflegedienst gewesen sein könnte.
„Okay. Dann wart Ihr also gestern draußen. Hast Du bezahlt?“ Bohre ich weiter.
„Na klar, wenn mich jemand mit auf einen Ausflug nimmt, dann zahle ich!“
Da ist er noch ganz alte Schule: er lässt es sich nicht nehmen den Kaffee zu bezahlen, wenn wir unterwegs sind.
Ich kann nicht anders – ich stehe auf und checke sein Portemonnaie. Es liegt am gleichen Platz, so wie ich es vor einer Woche drapiert habe. Es fehlt kein Geld. Auch der Rollstuhl steht genau so da, wie ich ihn die Woche zuvor zurück gestellt habe. Ich setze mich wieder zu ihm.
„Lothar, wie heiße ich denn?“ Frage ich ihn vorsichtig.
Er sieht mich an und lacht. „Ja, wie heißt Du denn…“

Später erzähle ich meiner Schwester von der Unterhaltung.
Sie: „Und, findest Du es schlimm, dass er nicht mehr weiß, wie Du heißt?“
Ich: „Nee, eigentlich nicht. Aber dass er nicht mehr zusammen kriegt, mit wem er da den Ausflug gemacht hat, das ist schon gewöhnungsbedürftig.“
Sie: „Naja, er verliert vielleicht seinen Geist, aber gewinnt eine neue Realität hinzu. Er hat gestern mit einem Mädel einen Ausflug gemacht. Das ist doch was.“