Im Zug.
Ein gut aussehender junger Mann, markante Züge, dynamisch in der Art wie er seinen großen Rollkoffer durch den engen Gang des ICEs schiebt, wacher Blick aus sehr dunklen Augen. Später sitzt er am Fenster, der Zug fährt in Straßburg ein. Sein Blick auf das Häkelbild in seinen Händen, auf Gesichtshöhe. Versunken, meditativ sticht er die Nadel mit einem braunen Garn in die ausgestanzten Löcher und füllt ein Pony auf dem Bild aus. Auf seinem Klapptisch vor ihm eine Tüte mit weiterem passenden Garn für die Wiese drumherum.
So sieht die Zukunft aus. Oder der Moment.
(Seltsam… nur weil jemand gut aussieht und was Ungewöhnliches tut, denkt man, dies sei die Zukunft. Macht es jemand normal Aussehender, kommt Nostalgie auf.)
Eine Frau spricht hinter mir mit ihren Töchtern, zwei jungen Teenagern mit Ohrstöpseln im Ohr und Handy vor der Nase. Sie selbst hat ihre nackten Füße auf den unbequemen Sitzen an sich ran gezogen. Sie zeigt ihren Töchtern irgendwas auf ihrem Handy. Diese nicken nur brummend und glotzen wieder auf das ihre.
Ich frage, ob sie dänisch oder schwedisch sprechen, ich kann das nicht immer eindeutig auseinander halten.
Sie kommen aus Schweden und sind von Antibes im Süden Frankreichs mit dem Zug am selben Morgen losgefahren um am nächsten Abend in Stockholm anzukommen. Eine Nacht bleiben sie in einer norddeutschen Stadt, deren Namen sie nicht aussprechen können und die ich so auch noch nie gehört habe. Wie wunderbar doch manche wieder das Reisen entdecken und damit die Welt auf 2500km im wahrsten Sinne des Wortes er-fahren.
„Neeiiiiinnnn, bitte niiiiiichhhht auf mein Kleid!“ Schreit eine Frau, als ich eine Tüte auf die Gepäckablage legen möchte. Sie macht eine abwehrende Bewegung mit ihren beiden Händen, an denen sehr lange bunte Fingernägel kleben. Ich bin etwas pikiert. „Na gut… dann nicht…“ Und lege die Tüte auf der gegenüber liegenden Gepäckablage ab.
Ich setze mich neben sie. Sie lächelt, dann beugt sie sich konzentriert über ein Video auf ihrem Handy, welches auf der Tischablage vor ihr liegt. Eine undefinierbare Musik erklingt relativ laut dazu, ich blicke irritiert hinüber – tanzende Paare in grellen Kleidern bewegen sich zirkelnd in standardisierten Formen umeinander.
„Ach,“ sage ich. „Tanzen Sie?“
„Ja,“ sie zeigt stolz auf eine Figur in Pink. „Das da bin ich.“
„Ach, daher das Kleid?“
„Ja, genau. DAS Kleid.“ Sie lacht nicht unsympathisch.
Es folgt eine relativ ausführliche Erklärung, was man so im Standard- und Latein alles macht, wie teuer das Ganze ist (das Kleid kostet wohl an die 3000,- €) und wie viele Stunden man die Woche trainiert (ca. 10h).
Es ist alles nicht uninteressant, aber tatsächlich einnehmend wirkt nur die Klarheit bezüglich ihrer Entschiedenheit: „Es ist ein sehr teures Hobby – Tanzstunden, in der Gruppe oder Einzeltraining, die Kleider und Schuhe, die Reisekosten zu den Wettkämpfen, das Startgeld, die Übernachtungen. Ein sehr teures Hobby.“ Sie nickt.
Ja, das muss man wollen. Ich schaue in dieses aufwendig ausstaffierte Gesicht, die Lippen aufgeworfen, die Wimpern verlängert, sorgfältig angepinselt.
Blick aus dem Fenster: Am Bahnhof des Frankfurter Flughafens steht ein Vater mit seinem Sohn, beide tragen Masken.
Ich drehe mich zu meiner Sitznachbarin. „Das muss bestimmt hart für Sie gewesen sein, während Corona nicht trainieren zu können, oder?“
„Ach, wir haben einen Sondergenehmigung bekommen.“
Geil. Für Standard- und Latein-Tanzende gab es Sondergenehmigungen. Für all die Kids in ihren Sportvereinen (soweit ich weiß) nicht.
Wer sich über das Englisch der Angestellten der Deutschen Bahn wundert, sollte sie mal französisch reden hören.
Ich wäre gerne mal in einem derer Sprachkurse dabei.
Gibt es welche?