Nach dem Sport sitze ich noch aufgeheizt vor dem Bäcker in meiner Straße auf der Bank und blättere in der herum liegenden taz von heute rum. Hängen geblieben bin ich vor allem bei einem Artikel über die empfohlene Nutzung der Steuerüberschüsse für den sozialen Wohnungsbau statt der Streichung des Solis – dem ich absolut zustimme – und einem fiktiven Interview der Redaktion mit der Pizzeria Antonio über das vorzeitige Ausscheiden Italiens in der WM-Quali.

Zwei junge Männer fragen mich in recht gebrochenem Englisch, ob sie sich mit an den Tisch setzen könnten. Ich will sowieso aufbrechen und versuche noch, dieses wirklich witzig gestaltete Interview mit Pizza-Antonio zu Ende zu lesen. ‚Toni‘ ist total verzweifelt und schiebt das Ausscheiden der Italiener Trump, Putin und Erdogan in die Schuhe, damit Blatter Deutschland zum Weltmeister küren kann – absolut lesenswert: „Ich bring mich um!“.

Ich frage die etwas südlich aussehenden Gesichter in meinem gebrochenen Englisch, ob sie zufällig aus Italien seien.
„Nein“, antwortet mir derjenige, der gleich neben mir sitzt. Sie seien aus Portugal. „Warum?“
„Ach,“ ich winke ab. „Ich lese hier nur gerade was über Fussball.“
Er schaut mich erstaunt an. „Interessierst Du Dich für Fussball?“
„Nein,“ sage ich lachend. „Ich interessiere mich für die Berichterstattung über Fussball.“
„Wieso? Schreibst Du?“
„Nicht direkt, ich finde es einfach unterhaltsam. Ein Bereich in der täglichen Presse, der irgendwie immer gleich bleibt. Mal gewinnen die, mal verlieren jene. Das hat doch was Beruhigendes und man braucht doch auch mal was zum Schmunzeln.“
„Stimmt. In Portugal hatten wir diesen Diktator und dieser verordnete seinem Volk in seiner Staatsräson die drei Fs: Fatima – ein Wallfahrtsort oder auch die Kirche an sich, Fado – die Musik und der Fussball, damit sich das Volk nicht in die Politik einmischte. Fussball hat was herrlich Ablenkendes.“

Sein Freund setzt sich zu uns mir gegenüber. „Was geht?“
„Wir unterhalten uns gerade über Fussball.“ Sagt mein Sitznachbar. Er trägt einen beeindruckend schönen Perlenohring an seinem linken Ohr.
„Sie…“ Er unterbricht sich und schaut mich an. „Darf ich ’sie‘ sagen?“ Ich nicke verdutzt. Es hat mich noch nie jemand gefragt, ob er (sie/es) mich mit ’sie‘ oder ‚er‘ bezeichnen dürfe. Das kommt der Vollendung der zeitgenössischen political correctness in Bezug auf queer doch verdammt nahe.
„Sie hat mich gefragt, ob ich Italiener sei, weil sie gerade einen Artikel über Fussball liest.“
Mein Gegenüber sieht mich überrascht an. „Interessierst Du Dich für Fussball?“
„Nein,“ sage ich erneut. „Ich interessiere mich für die Art und Weise, wie darüber geschrieben wird.“
„Bist Du Journalistin?“
„Nein, einfach so.“
„Aha, und wie überlebst Du so?“
„Ach, ich arbeite hier und da im Gesundheitsbereich. Und Ihr?“ Mein Sitznachbar sieht mich spöttisch an und guckt an seiner Kleidung hinunter. Dort prangt der Name eines Lieferservice für Restaurantessen per Fahrrad.
„Das sehe ich,“ sage ich. „Was macht Ihr sonst so?“
„Ja, also in meinem richtigen Leben male ich, tanze ich, schreibe ich.“
Er erzählt von seiner Tanzausbildung in Amsterdam und einer Methode, die ‚Hands-on‘ heißt, die Tanz und Therapie zusammen bringt und die er sehr gerne auch hier verwirklichen möchte. Und erst gestern habe er beim Aufräumen einen Brief vom letzten Jahr von sich an das Universum gefunden. In dem er sich gewünscht habe, mehr mit Menschen vernetzt zu sein, die wie er Kunst machen, tanzen, singen, malen und einfach anders kommunizieren.

Sein Freund schiebt mir eine Visitenkarte rüber. „Ich mache auch Alternative Medizin. Über Musik und seine Klänge den eigenen Körper erfahren, erleben und damit Blockaden überwinden. Dafür suche ich gerade noch ein größeres Studio.“
Ich bin beeindruckt von diesen beiden zarten Wesen aus dem warmen Süden Europas, mit denen ich in ihren bedruckten Funktionsklamotten dieses Liefer-Start-ups bei Kaffee und Brötchen in grauem November-Nieselregen in der Dieffe sitze.

„Warum sagt Ihr ‚überleben‘?“ Frage ich.
Mein Nachbar neben mir zuckt kurz mit den Schultern. „Vielleicht weil es das schon immer in unserer Familie so war. Meine Eltern haben mich mit 18 bekommen, ich kenne es gar nicht anders.“
Mein Gegenüber: „Ich habe das mehr aus Witz so gesagt. Aber eigentlich ist es kein Witz. Es fühlt sich einfach oft so an.“
Das Handy von meinem Nachbar klingelt. Er lacht ohne drauf zu sehen. „Ich zeige Dir was“ und holt es hervor. Eine weibliche Stimme auf englisch spricht einen Text, den ich nicht verstehe. „Das ist mein Boss, eine automatische Ansage, dass meine Pause jetzt um ist. Und wenn ich nicht diesen Job verlieren will, muss ich jetzt los.“ Er lächelt dabei, doch sein Blick geht ins Leere.
„Okay,“ sage ich. „Dann lasst uns noch die letzten Sekunden unserer gemeinsamen Zeit nutzen und ein anderes Wort für ‚überleben‘ finden. Wenn Ihr an das Universum glaubt, dann ist alles Resonanz und wenn Ihr weiter von überleben redet, wird es immer nur ein Überleben bleiben.“ Ich versuche munter zu klingen. Sie nicken lustlos.
Keinem fällt etwas ein.
„Celebrate!“ Rufe ich, „celebrate your day!“ Zu weiteren Wortkreationen reicht die Zeit nicht. Sie stehen langsam auf und ziehen sich diese firmierten Fahrradhelme auf.
„Celebrate your day!“ sagen sie nachdenklich und etwas lahm, während sie auf ihre Bikes steigen. Ich sehe es ein, es nützt nicht wirklich was. Vielleicht hilft da nur Fussball.