Ich war in Athen – einfach so und um einen kleinen Eindruck von der diesjährigen Documenta zu bekommen. Wie auch schon in einigen Kommentaren vorher beschrieben, sollte man nicht zu viel von der Kunst erwarten und die teils wundervoll verwunschenen Ausstellungsorte quer verteilt als Aufforderung sehen, diese wundersame Stadt zu erlaufen.
Das tue ich und meine Begeisterung steigert sich von Ecke zu Häuserblock, Straßenzug zu aufkreuzenden Plätzen in eine anstrengende Aufgekratztheit.

Man kann diese Stadt bei moderaten Temperaturen nur lieben! Bei 35° und höher wäre das natürlich was anderes. Aber so Anfang Mai ist alles für meinen zwei-Tages-Ausflug perfekt!
So laufe ich von Monastiraki die Straße Richtung Norden hoch zum Archäologischen Nationalmuseum. Allein der Weg dahin über vollgestellte Bürgersteige mit all möglichem Klimbim lässt in mir Hochgefühle aufwallen: überall wird das Auge hingerufen, hinein saugen sich ihre Details und Kleinigkeiten, die zu einem wuseligen Wimmelbild zusammen laufen.

Vorbei an kleinen Läden mit Haushaltswaren, die mich von ihrem auf die Funktion reduzierten Stil stark an das sündhaft teure Manufactum erinnern – hier bestimmt von den Preisen eher lebensnah.
Cafés und feine Bistros ohne Ende, Miniaturkirchen, aus denen Weihrauch und orthodoxe Choräle dringen und deren prunkvolle Goldausstattung einem beim kurzen Blick hinein immer wieder den Mund vor Staunen offen stehen lässt. Dahinter konstanter Autolärm und Motorollergehupe, griechisch, griechisch, englisch, griechisch und irgendwas vom Kontinent dazwischen.

Und wenn man sich umdreht, am Horizont dieser sympathische Geröllhaufen – stolz und doch irgendwie auch hin drapiert: die Akropolis.
Ich weiß, ich weiß, wie kann man nur angesichts der Wiege der Zivilisation, Sokrates und Platon, ganz zu schweigen von den griechischen Gottheiten… Verzeiht mir all Ihr lieben griechischen Weisen und auch ihr Götter – man hat einen fantastischen Blick von Euch da oben und ich besteige ein jedes Mal bei meinem Besuch diesen Berg – aber wie meine derzeit in Athen wohnende Freundin später sagen wird: es sind einfach auch mal nur Steine. Nicht besser und nicht schlechter als jeder andere historische Konstruktion. Klar und wunderbar angestrahlt in der Nacht!

Eine Markthalle eröffnet sich auf dem Weg zur Rechten. Gestalten mit langen Messern und Beilen in weißen Kitteln werkeln zwischen roten, hängenden Kadavern. Rufe hallen durch kahle Gänge, ein süßlich-kalter Hauch weht mir entgegen, welcher mich unwillkürlich zurück auf den Gesteig in die ansteigende Hitze des Vormittags treten lässt. Schnell ziehe ich weiter und doch steht da weiterhin dieses Bild: wartende Männer, alle deutlich schlank, unruhig, hungrig auf und ab laufend zwischen herumhängendem und liegendem Fleisch.

Später erzähle ich jener Freundin von der Markthalle und wir beschließen noch mal vorbei zu gehen. Wir stehen an einem ihrer Eingänge und schauen auf das weiß-rote Treiben. „Komm,“ sagt sie. „Lass uns da mal rein.“
Sie ist eine dieser Personen, die gerne was erleben. Ich hingegen finde Ereignisse auch aus der Ferne spannend. Aber ich bin in mancher Hinsicht ein willensschwaches Wesen und sage, wie sollte es auch anders sein: „Naaa guut…“

Beim Eintreten in das Innere blicken uns die weiß gekleideten Männer entgegen. Es ist ein bisschen so, als würde man offenen Auges und mit erwartungsvoll ausgebreiteten Armen auf eine wohlfeil angebotene Nötigung zugehen. Meine Freundin in einer gewissen Vorfreude und ich mit dem Wissen, dass ich es hinterher wie immer schon vorher gewusst haben werde.

Sie kommen auf uns zu, langsam und selbstsicher – teilweise mit einladenden Gesten, mit Worten, die im Hall der lauter werdenden Schläge und Hiebe auf Tischen liegendem Fleisch untergehen. Die Straße und ihr stetiger Fluss aus stabiler Geschäftigkeit hinter uns entfernt sich immer mehr und wir werden eingehüllt, eingeschlossen an diesen Ort aus versickerndem Blut, wo still gewordene Körper, Köpfe, Schenkel, Lenden, Beine und Füße ohne ihre Haut daliegen.
So etwas wie ihr Leben bleibt bei den Verwaltern zurück und es scheint doch nicht zu reichen. Schreiend nähern sie sich, so als ob wir, die Eindringlinge für den Hauch eines Moments etwas daran ändern könnten und ihr Gebahren ein kurzes Ausbrechen aus diesem nicht enden wollenden Kreislauf aus Werden und Vergehen. Sie taxieren uns von oben bis unten, wir, die noch nicht auf den ausgewaschenen Bänken liegen für dieses Etwas, was sich um unsere Knochen hüllt. Sie sprechen auf unsere Gesichter, Kleider und Häute ein, immer näher kommen sie in ihren weißen Kitteln, das Messer lässig in der Hand.

Ein Beil kracht auf eine Tischplatte, zersplitterte Knochen, getrennte Gliedmaßen in meinen Augenwinkeln.
Die Freundin sieht die einsetzende Versteinerung und nimmt meine Hand. Wir drehen uns um. Der Weg zurück ist genauso lang wie der Weg nach vorne, aber eine Flucht würde unsere touristische Ziellosigkeit, diese naive Freiheitlichkeit noch mehr offenbaren.
Wir eilen weiter vor um eine Ecke. Ein Stöhnen von der Seite, meine Freundin scheint ähnlich enttäuscht, dass die Fleischstraße hier noch weiter geht, sich kein Gemüse oder Obst erlösend vor uns zeigen will.

Der Gang wird enger, die weißen Kittel scheinen sich hier versammelt zu haben. Sie treten auf uns zu, Geraune, Gemurmel, fast zärtlich nähern sie sich, während wir, aneinander gekrallt, schneller vorwärts drängen.
Hammelschädel ohne Augen betrachten unser Gehetztsein aus der Ferne, ich ducke mich, etwas verschließt von innen die Ohren, so dass das Pfeifen und Gejohle der Schlächter leiser wird.

Die Straße vor uns kommt näher, hell, endlich Abgase und Straßenlärm, wärmen uns. Wir stehen wie aus dem Inneren eines Körpers unverdaut ausgespuckt zwischen Trockenobst und Gewürzen auf dem Gehweg in der Mittagshitze.
Meine Freundin blickt zurück. Dann ein irritiertes Lachen. „Das war ja was…“ Sagt sie nachdenklich und dann: „Was meinst Du, sollen wir noch mal… ?“