Der Tag ist gekommen, wir werden uns heute von drei Zähnen verabschieden. Im Nachhinein überlebt man so etwas immer, das ist nicht die Frage. Doch die Erfahrung dessen macht man immer ein Mal zum ersten Mal und daher steht ein schwerer Gang über den Hermannplatz bevor.

Ich soll das Tierchen gegen Mittag abgeben, das nüchtern zu sein hat. Schon dieser Umstand hat mein Entsetzen auf den Plan gerufen: „Wie bitte?“ Frage ich die Arzthelferin. „Nüchtern?“ Als hätte ich das Wort noch nie gehört.
Sie schaut mich verständnislos an. „Ja,“ sagt sie nüchtern. „Es ist eine Operation mit Vollnarkose, da muss das Tier NÜCHTERN sein.“

Ich bin vollkommen sprachlos. Irgendwo in meinem Hinterstübchen leuchtet das zwar der Logik nach ein, aber ich empfinde diese Zahn-OP als extreme Zumutung für unseren alltäglichen Ablauf und jetzt soll ich ihm erklären, dass er an dem Tag nichts zum Frühstück bekommt und – da ich ihn nicht raus lassen darf – wie kann ich es wagen, ihm das meine vorzukauen? Geht gar nicht, also bleibe ich auch nüchtern (bis auf Kaffee).

Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen, dass es überhaupt so weit kommen musste. Bin nicht ich dafür verantwortlich, dass ihm jetzt der Kiefer aufgebohrt werden muss (Katzen haben wohl ellenlange Zahnwurzeln, wie mir zu meinem Leidwesen auch noch mitgeteilt wurde). Schließlich habe ich ihn jahrelang auch mal die zuckrigen Jogurt- und Puddingdeckel ablecken lassen, Milch schlecken und wer weiß, was nicht alles an schädigenden Substanzen in dem billigen Katzenfutter drin war. Nun ist es zu spät und wir sind so weit.

Innerlich mit den Zähnen klappernd schleiche ich durch die klapprige Tür in das Innere der Hölle. Drinnen sitzen ähnlich beklommen Bulldoggen-Eltern, die das ihre Tier auch für einen Eingriff abgeben müssen. Mit Sorgenfalten auf der Stirn versuchen sie diesen ausgesprochen unsympathisch wirkenden Hund zur Ruhe zur bringen, was nicht möglich ist, weil dieser unablässig versucht, zur Tür wieder hinaus zu entfliehen.
Dabei gibt er solch heftige Grunz- und Schnaufgeräusche von sich, dass ich die unsere Panik einen Moment vergesse und gebannt der ihren zusehe.

So sitzen wir da, die hässliche Bulldogge (es tut mir für alle Bulldoggen-Liebhaber leid: ‚hässlich‘ ist nicht abwertend gemeint, es ist vielmehr ein Adjektiv, welches mir einfach spontan im Kontext von ‚Bulldogge‘ mit raus fluppt – Bulldoggen können bestimmt was ganz Bezauberndes haben) zerrt ohne Unterlass an der dicken Leine, sein Frauchen versucht mit zittriger Stimme ihn (oder sie) zu beruhigen.
Ihr Partner wippt angespannt mit weit aufgestellten Beinen, so dass seine Schuhsohlen feine Quietschgeräusche auf dem gräulichen Linoleum hinterlassen.

„Schade, dass man hier nicht rauchen darf.“ Sage ich mehr aus Witz.
Die Arzthelferin sieht uns böse an. Das haben wir verdient.
Das, was sie tagein – tagaus hier an Operationsreigen erleben darf, wird nur unnötig anstrengend durch unverarbeitete Kindheitstraumen der Tierhalter.
Man sollte eigentlich gleich eine Psychotherapiepraxis im Warteraum installieren, die würde boomen ohne Ende.

„Es ist nur ein kleiner Eingriff an der Schulter.“ Die junge Frau ist fast am Weinen.
„Es wird schon gut gehen, aber sie (oder er) hat solch eine Angst beim Tierarzt. Ich hoffe, die Beruhigungsspritze wirkt dann schnell. Er (oder sie) hat halt schlechte Erfahrungen gemacht bei seinen Haltern davor. Und das haben wir nun davon. Jedes Mal, wenn es zum Tierarzt geht, haben wir ein Riesen-Theater.“
Ich nicke zustimmend und fühle mich gerade sehr erschöpft.

„Ja, da siehst mal wieder, was der Mensch für ein Schwein sein kann!“ Presst der junge Mann unverwandt zwischen seinen Lippen hervor. Er schaut demonstrativ wieder aus dem großen milchigen Fensterglas auf den trüben Straßenzug hinaus.
Seine Freundin pflichtet ihm schnell bei. „Ich verstehe auch nicht, wie man gemein zu Tieren sein kann. Tiere sind einfach die besseren Menschen.“
„Naja,“ sage ich, froh darüber, dass sich ein Gespräch ergibt, um mich von der meinen Nervosität abzulenken. „Tiere können aber auch ganz schön fies sein. Habt Ihr mal diese fantastische Tierdoku ‚Deep Blue‘ gesehen? Schon ein bisschen älter. Da jagen Haie eine Orka-Mama mit ihrem Baby, so lange bis das Baby stirbt. Und nicht etwa, weil sie Hunger hätten und dieses fressen wollen, sondern einfach nur so. Aus Spaß oder Jagdtrieb.“

Sie schaut mich nickend an. Er blickt kurz herüber, die ächzende Bulldogge zwischen seinen Beinen tätschelnd.
„Hmm… ja, stimmt schon.“ Scheint sie zu überlegen: „War das nicht der Film mit LL Cool J?“
„Äh… nein.“ Antworte ich zögernd. „Der war in dieser Tierdoku nicht dabei…“
Sie runzelt die Stirn. „Nicht? Ich dachte, ich hätte mal so einen Film gesehen.“
„Vielleicht war das ein Surfer-Film?“ Frage ich lahm.
Sie nickt eifrig. „Das wird es gewesen sein! Der hieß auch so ähnlich.“

Mir ist es eigentlich schon egal, ob wir wissen, welchen Film die andere meint.
Ich höre hinter mir die Stimme, die mich aufruft. Ich sehe mich, wie ich den Kater abgebe und höre mich bitten, dass sie vorsichtig mit ihm umgehen sollen.

Ich drehe mich zu dem Pärchen mit dem dicken Bulldoggen-Baby um. Sie lächeln.
„Toi Toi Toi.“ Sagt sie munter. „Wird schon gut gehen.“
Ich nicke langsam. Wer braucht schon Psychotherapie, wenn man hier mit solch wackeren Gefährten Tierarztbesuche bestehen kann.