Im Zug neben einem Bundeswehrsoldaten. Er schaut auf seinem quer auf dem Tisch aufgebauten Handy irgendeinen Blockbuster. Da wir aus einem anderen Wagon wegen nicht funktionierender Klimaanlage verbannt worden sind, muss ich mit den Kids woanders Zuflucht suchen. Neben ihm war der Zweier noch frei, auf dem sich die Jungs breit machten, ich setzte mich in der gleichen Reihe neben ihn.
Wahrscheinlich kamen wir darüber ins Gespräch, was an diesem Tag bei der Bahn alles schief lief. Tatsächlich hatten wir zuvor vor Frankfurt Main eine Stunde in der Pampa rumgestanden, weil ein Regio vor uns liegen geblieben war und erstmal abgeschleppt werden musste. In dem Rahmen fragte ich wohl – es war ein Freitag Mittag – von wo er käme und wohin er über’s Wochenende hinfahren würde, war doch offensichtlich, dass er zu jenen pilgernden Soldaten gehörte, die über’s Wochenende in ihre Heimat fuhren.
Er wollte wohl von Stuttgart nach Hamburg, wo seine Kinder lebten. Er war Berufssoldat und für alles Organisatorische und Verwaltungstechnische um das Munitionslager seines Standortes herum zuständig. Natürlich ging es im Gespräch um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und wie sich dadurch auch der Blick auf die Bundeswehr – dieses ungeliebte Stiefkind deutscher Geschichte – verändern könnte.
Vielleicht war er Anfang 50, sein Körper wirkte stramm unter dem Flecktarn mit der in meinen Augen stets Befremden auslösenden schwarz-rot-gelben Flagge am linken Oberarm. Seine Stimme klang auffallend ruhig, fast leise, seine Wortmelodie eher fragend, ins Ungefähre gehend. Er erzählte mir von seinen Aufgaben, seinem einer klaren Struktur folgenden Arbeitstag, den vielen Kilometern, die er am Tag in seinen Schnürstiefeln selbst im Sommer bei heißesten Temperaturen auf dem Gelände zurücklegte („meine Fußsohlen wollen Sie nicht sehen…“), seinem alltäglichen Training.
„Wieviele Liegestütze können Sie?“ Fragte ich ein bisschen aus Spaß. Den schien er nicht als solchen zu verstehen.
„Na, so 90.“ Kam es ernst von der Seite.
„90…? Warum nicht die 100 vollmachen?“ Ich musste lachen.
„Naja, ich wollte das jetzt nicht so raushängen lassen…“ Seine Worte verschwanden in einem Gemisch aus ungenauem Genuschel und Lautsprecherdurchsagen.
Er erzählt von seinem Einsatz in Afghanistan. Sie waren die Ersten. Damals 2002.
„Stundenlang warteten wir und durften nicht aus dem Flugzeug aussteigen, weil wir nur Splitter-sichere Westen dabei hatten und keine Kugel-sicheren. Die Engländer kamen dann und haben uns versorgt.“ Er lacht leise auf. Doch seine Augen bleiben ausdruckslos. Er zeigt mir Fotos auf seinem Handy von Afghanistan. Vom Hindukusch. Wunderschöne Aufnahmen von oben aus dem Hubschrauber heraus, aber auch viele Bilder von den Menschen – Kinder, die mit zweifelndem Blick in die Kamera schauen. Diese Augen, die uns mittlerweile so bekannt vorkommen, so sehr, dass man nicht mehr zuordnen kann, welchem der vielen Krisenherde der Region sie entstammen.
„Ich hatte zusätzlich zu meiner Ausrüstung immer die Kamera dabei. Zu den regulären 30 Kilo noch mein Teleobjektiv.“ Es könnte so wirken, als wollte er angeben. Doch wenn er so erzählt, dann wirkt er an allem irgendwie unbeteiligt.
Auch daran, wie oft er dem Tod von der Schippe gesprungen ist. „Ich bin kurzfristig auf eine andere Tour gesetzt worden. Die Truppe, mit der ich hätte ausrücken sollen ist in einen Hinterhalt geraten. Alle tot.“
An einem anderen Tag habe er einen Kameraden nur noch in Einzelteilen aus einem vor ihnen detoniertem Fahrzeug ziehen können. „Den Kopf haben wir nicht mehr gefunden.“
„Gibt es eigentlich psychologische Hilfe für solche Einsätze?“ Es ist eher eine rhetorische Frage. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Ja klar. Aber das habe ich nie in Anspruch genommen. Ich komme ganz gut zurecht.“ Seine rechte Hand streicht über die Augenbraue.
Ich schaue zu meinen Jungs rüber, beide tief in die Screens ihrer Handys eingetaucht. Auch wenn sie gerade Parkour-Spiele spielen oder irgendein anderes Super-Mario-ähnliches Game – sie stehen auch auf diese animierten Kriegsspiele. Und ich sitze gerade neben einem, dessen Realität für diese Spiele pervertiert wird.
„Der Kosovo ist wie Urlaub. Da ist nicht viel los.“ Er schaut kurz aus dem Fenster. „Nächsten Monat geht es nach Litauen.“
„Warum machen Sie das alles?“
Er schaut mich an, als erstaune ihn diese Frage. „Na, um die Demokratie zu verteidigen.“
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er das ernst meint oder doch so was wie einen Sinn für Ironie hat. Seine Stimme bleibt irritierend tonlos. Wenn er mich auf den Arm nehmen möchte, lässt er sich nichts anmerken. Doch ich glaube, nicht mal er selbst bekommt seine eigenen Hintergedanken mit. Sie scheinen ihn nichts anzugehen. Wenn es sie überhaupt geben sollte.
„Ich finde, Sie sollten Ihre Bilder in einer Ausstellung der Öffentlichkeit zeigen.“ Sage ich. Gleichzeitig dämmert es mir, dass wir sie ja eigentlich schon kennen.
Über 20 Jahre Afghanistan.
Er blickt auf sein Handy mit all den aufgenommenen Momenten.
Er lacht wieder leise. „Eine Ausstellung…?“
Ich: „Auf jeden Fall!“ Ich nicke nachdrücklich.
Er reagiert nicht. Dann sehr leise: „Würden Sie denn kommen?“
„Äh ja,“ ich räuspere mich. „Natürlich.“
Er hat es auch mal ohne Bundeswehr versucht. Das hat nicht lange funktioniert. Er ist zurück gegangen. Seine Tochter fängt jetzt auch bei der Bundeswehr an. Man kann dort ab 55 in Rente gehen. Er sagt, er wird versuchen länger zu bleiben.