Kurz vor dem Jahreswechsel sitze ich im M41 zum Hauptbahnhof. Ähnlich wie vor Weihnachten sind in dieser Linie Menschen zu ihren Freunden oder Familien unterwegs, um irgendwo und irgendwie den Abend des Jahres zu verleben.

Hinter mir sitzt ein junger Mann mit extrem langen Beinen. Er entschuldigt sich höflich, als ich ihn mit meinen Koffer anstoße. Er ist still. Seine Nachbarin am Fenster redet dafür umso mehr. Angenehm in der Stimme vernehme ich ihren Jahresrückblick 2019. Dass Yoga ihr so gut tue, ihrem Leben so viel mehr Substanz gebe. Der junge Mann hört zu. Sie fragt, ob alles gut sei. Er räuspert sich. „Du kannst mir gerne etwas erzählen. Aber ich werde mich jetzt auf die bevorstehende Zugfahrt vorbereiten.“

„Oh, okay. Sorry.“
„Neinnein, alles gut. Ich höre Dir zu. Ich werde nur etwas ruhiger sein.“
„Hast Du Deine Medikamente heute genommen?“ Fragt sie leise.
„Ja, natürlich. Ich nehme sie jeden Tag.“
„Wieviele Tabletten nimmst Du?“
Er nennt eine Zahl, die ich akustisch nicht verstehe. Sie muss hoch sein. Das Mädchen wirkt hinter mir bedrückt. „Es muss doch eine andere Möglichkeit geben… hast Du mit Deinem Arzt mal gesprochen?“

Er weicht aus. „Lass uns bitte über was anderes reden.“

Es hört sich an, als würde sie sich zum Fenster drehen. „Was für ein Jahr geht zu Ende. Alles in allem war es doch ein Gutes… ich habe festgestellt, dass mir das Yoga so gut tut. Ich bin so viel mehr bei und in mir. Ich kann das wirklich nur empfehlen. Vielleicht wäre das auch was für Dich?“ Sie schweigt kurz. Dann: „Wie auch immer, ich bin wirklich zufrieden mit meinem letzten Jahr, es ist so viel Gutes passiert und es wird gut weiter gehen.“

„Naja,“ fügt sie seufzend hinzu. „Bis auf dass Australien gerade abbrennt… und der Brexit die Briten absaufen lassen wird.“ Sein ‚Mmmhh‘, welches warm in ihr Bedauern einstimmt.

Auf der Rückfahrt sitzt ein anderes Pärchen hinter mir. Am Potsdamer Platz zeigt sie auf eine große Werbetafel an einem Hochhaus.
„Schau mal,“ sagt sie. „Was für ein komischer Style von dem Mädchen. Die kurze Lederhose mit dem bauchfreien Top, darüber den langen Wollmantel und die nackten Beine in groben Boots… wer zieht sich so an?“

„Ja,“ antwortet ihr Freund. „Das muss man schon wollen…“